Der mediale Mittelfussschmerz – nicht immer ist es eine Arthrose!

Der «verkannte» Sehnenschmerz

Eine nicht alltägliche Pathologie stellt die degenerativ bedingte Tendinopathie der Tibialis-anterior- Sehne dar. Diese in der Praxis immer wieder vorkommende Sehnenerkrankung wird nicht selten sogar von Spezialisten verpasst. Die frühe Diagnosestellung ist jedoch wichtig, da inkorrekte therapeutische Massnahmen und/oder eine verzögert einsetzende Behandlung die Ruptur der Sehne begünstigen. Folge der Ruptur der nach der Achillessehne zweitstärksten langen Fusssehne ist eine schwierig zu behandelnde Gangbeeinträchtigung.

Der Tibialis-anterior-Muskel – was ist seine Funktion?

Der Tibalis-anterior-Muskel liegt antero-lateral über der Tibia. Sein gut sichtbarer sehniger Anteil verläuft nach distal anterior und leicht medial über dem Sprunggelenk, um im Mittelfussbereich am Os cuneiforme mediale und an der Basis des Os metatarsale I zu inserieren (Bild 1). Als stärkster Extensor des Fusses spielt dieser Muskel eine wichtige Rolle beim Gehen. Funktioniert er nicht – wie etwa nach einer Ruptur – kann der Fuss aktiv nur ungenügend dorsalextendiert werden. Es kommt zum Steppergang.

Abb. 1: Die Tibialis-anterior-Sehne verläuft antero-medial über dem Sprunggelenk und inseriert am Os cuneiforme mediale und auf der Basis des Os metatarsale I. Durch ihren Verlauf bewirkt die Tibialis-anterior-Sehne eine Dorsalextension und gleichzeitig eine Inversion-Supination des Fusses.

Wie kommt es zur Erkrankung der Tibialis-anterior-Sehne?

Die Tibialis-anterior-Sehne kann mit dem Alter zunehmend degenerieren. Das typische Alter hierfür liegt gegen 60–70 Jahren, wobei Frauen wesentlich häufiger als Männer betroffen sind. Die genaue Ursache dieser Degeneration ist nicht bekannt, eine prekäre lokale Durchblutung sowie auch gewisse hormonelle Einflüsse werden diskutiert. Mit fortschreitender Degeneration wird die Sehne zunehmend geschwächt, bis sie schlussendlich spontan rupturiert.

Was erzählt mir der Patient und welche Fragen muss ich stellen?

Beim typischen Bild findet man eine circa 60- bis 70-jährige Patientin, die über spontan aufgetretene und am medialen Mittelfuss lokalisierte, gut abgrenzbare Schmerzen klagt. Die Schmerzen treten beim Gehen progressiv auf und werden beim Weiter gehen immer intensiver. Beim Bergabgehen sind die Schmerzen in der Regel stärker, da hierbei die Sehne grosse Kraft aufbringen muss, um den Fuss beim Aufsetzen auf dem Boden zu bremsen. Beim Bergaufgehen hingegen muss allein das Gewicht des Fusses angehoben werden, was deutlich weniger Krafteinsatz erfordert.
Pathognomonisch für eine Tibialis-anterior- Tendinopathie sind Nachtschmerzen. Grund hierfür ist die starke und antagonistisch wirkende Wadenmuskulatur, die den Fuss beim Liegen spontan plantarflektiert und hierbei die Tibialis-anterior-Sehne ununterbrochen unter Zug setzt.
Wird die Diagnose nicht früh genug gestellt, kann es mit der Zeit zur Ruptur der Tibialis-anterior-Sehne kommen. Die Patienten berichten über einen mehr oder weniger schmerzhaften «Knall» an der Innenseite des Mittelfusses, der sich meistens spontan, manchmal auch nach einem völlig banalen Trauma ereignet hat. Einige Tage nach diesem Vorkommnis verschwinden die wochen- oder monatelangen Schmerzen vollständig, da der schmerzhafte Zug auf die Sehne nach der Ruptur weg ist. Neu bemerken die Patienten aber Gehschwierigkeiten mit hörbarem Klatschen beim Aufsetzen des Fusses, weil dieser nicht mehr durch den Tibialis-anterior-Muskel gebremst werden kann. Das Bein muss in der Schwungphase hochgezogen werden, um ein Hängenbleiben des Fusses am Boden zu verhindern (Steppergang).

Was kann ich klinisch feststellen?

Die für den Patienten typischen Schmerzen können durch starken Druck auf die Insertion der Tibialis-anterior-Sehne auf Niveau der Basis des Os metatarsale I und wenige Zentimeter proximal davon ausgelöst werden (Bild 2). Die Schmerzen können auch provoziert werden, indem die Sehne unter starken Zug gesetzt wird, simulierbar bei der Dorsalextension des Fusses gegen den Widerstand des Untersuchers oder auch beim Fersenstand. Über dem Sehnenansatz kann sich zudem eine diskrete Schwellung zeigen.

Abb. 2: Die für eine Tendinopathie der Tibialis-anterior-Sehne typischen Schmerzen können durch «kräftige» Palpation der Sehne einige Zentimeter proximal und bis zu ihrer Insertion ausgelöst werden. An diesem Ort verspüren die Patienten ihre Schmerzen im Alltag.

Hat die Ruptur bereits stattgefunden, dann fehlt die typische Kontur der Tibialis-anterior-Sehne an der Innenseite des Mittelfusses sowie über dem Sprunggelenk anteromedial (Bild 3). Feststellbar ist dies, indem der Patient aufgefordert wird, seinen Fuss im Sitzen oder im Stehen aktiv nach dorsal zu extendieren – der Seitenvergleich kann bei Unsicherheit, ob die Sehne in Kontinuität ist, eine Hilfe sein.

Abb. 3: Klinisches Bild einer rupturierten Tibialis-anterior-Sehne (rechte Seite). Im Vergleich zur gesunden Seite fehlt die Kontur der Sehne. Bei der aktiven Dorsalextension werden die langen Gross- und Kleinzehenextensoren sichtbar vermehrt kompensatorisch eingesetzt, was zu einer Krallenzehenfehlstellung und vermehrter Sichtbarkeit dieser Sehnen führt. Der Fuss wird nicht mehr invertiert-supiniert.

Zu beachten ist, dass die Dorsalextension des Fusses in abgeschwächter Form weiterhin möglich ist, da die langen Extensoren der Grosszehe und der Kleinzehen unbewusst kompensatorisch zur Fussstreckung eingesetzt werden. Das sogenannte «Rekrutierungsphänomen» führt über die Zeit zu einer oft störenden Krallenzehenbildung (Bild 3) und kann Krämpfe im Tibialis-anterior-Muskel auslösen. Beim Gehen kann der typische Steppergang festgestellt werden, wobei erwähnt werden muss, dass dieser auch eine neurologische Ursache wie z.B. Hirninsult haben kann.

Woran muss ich differentialdiagnostisch denken?

Bei lokalisierten Schmerzen im medialen Mittelfussbereich muss differentialdiagnostisch in erster Linie eine Mittelfussarthrose naviculo-cuneiforme oder metatarso-cuneiforme ausgeschlossen werden. Die Schmerzen bei einer solchen Pathologie treten typischerweise in Form von Anlaufschmerzen auf und stören die Nachtruhe selten. Die Differenzierung von Arthrose- und Sehnenschmerzen ist palpatorisch nicht eindeutig möglich, da diese zwei Strukturen anatomisch nah beieinander liegen. Arthrosebedingte Schmerzen können mit forcierten passiven Rotationsbewegungen des Mittelfusses (Pronation-Supination) durch den Untersucher ausgelöst werden, Sehnenschmerzen sind hingegen mit der aktiven Dorsalextension des Fusses gegen Widerstand provozierbar. Diese beiden Tests erlauben jedoch keine sichere Differenzierung zwischen der Arthropathie und der Tendinopathie.

Welche Zusatzuntersuchung macht Sinn?

Konventionelle Röntgenaufnahmen dienen der Diagnosestellung einer Arthrose im Mittelfussbereich – leider ist diese radiologisch nicht immer eindeutig erkennbar. Eine diagnostische Infiltration der Mittelfussgelenke hilft auch nur bedingt weiter, da das Lokalanästhetikum gleichzeitig eine Wirkung auf den Sehnenansatz entfalten kann. Am besten lässt sich die Degeneration der Tibialis-anterior-Sehne mit einer MRI-Untersuchung darstellen, weswegen diese Untersuchung im Zweifelsfall zum Einsatz kommt.

Wie kann ich meinem Patienten helfen?

Die Tendinopathie der Tibialis-anterior-Sehne ist so gut wie immer degenerativ bedingt und spricht auf eine konservative Behandlung sehr schlecht oder gar nicht an. Die bei Tendinitiden zum Einsatz kommenden klassischen Dehnungsübungen, Ultraschall-, Stosswellen- und gar Eigenbluttherapien helfen – wenn überhaupt – wenig und dann nur kurzfristig. Lokale Kortison-Injektionen sind strikt verboten, da sie die Ruptur der beschädigten Sehne häufig beschleunigen oder gar provozieren. Medial abstützende Einlagen und festes Schuhwerk zur Entlastung der Sehne sind wirkungslos.
Die Therapie der Wahl für diese spezifische Pathologie ist chirurgisch. Die Sehne muss von ihren degenerierten Anteilen – die für die Schmerzen verantwortlich sind – befreit werden, was je nach Ausmass der Veränderungen bis zwei Drittel des Sehnendurchmessers ausmachen kann. Die Sehne muss anschliessend verstärkt werden, wofür meistens autologes Sehnenmaterial (z. B. ein Teil der Extensor-hallucis-longus- oder die Plantaris-Sehne) verwendet wird (Bild 4). Chirurgisch werden somit nicht nur die Schmerzen eliminiert, sondern es wird auch die drohende Ruptur mittels Augmentation der geschwächten Sehne abgewendet.

Abb. 4: Intraoperative Bilder einer degenerierten und rupturierten Tibialis-anterior-Sehne.

Der Eingriff kann ohne weiteres in örtlicher Betäubung (Fussblock) stattfinden, die Nachbehandlung erfolgt mittels Ruhigstellung des Fusses in einer abnehmbaren Unterschenkelschiene und Teilentlastung der unteren Extremität mit Stöcken während 6 Wochen. Die Erfolgsaussichten sind ausgezeichnet, wobei die Nachtschmerzen bereits in der ersten Nacht nach der Operation verschwinden. Sekundäre Rupturen und/oder erneute Beschwerden werden langfristig so gut wie nie beobachtet. Die Rupturgefahr einer degenerierten Tibialis-anterior-Sehne ist gross und die Rekonstruktion nach erfolgter Ruptur mit deutlich geringeren Erfolgsaussichten verbunden, weswegen diese Pathologie eine Operationsindikation darstellt. Der Arzt sollte seinen Patienten hiervon überzeugen und muss ihn unbedingt darüber informieren, dass er sich im Falle einer Ruptur – vor einer geplanten oder abgelehnten Operation – bei seinem Chirurgen melden sollte. Wichtig ist hierbei, die Symptome einer Ruptur zu schildern: Knall im Bereich der schmerzhaften Stelle am Fuss, rasche Schmerzfreiheit, fehlende Kontur der Tibialis- anterior- Sehne, Stumpfbildung etwa auf Niveau des Sprunggelenkspaltes anteromedial und Steppergang. Die Vorstellung beim Chirurgen sollte innerhalb weniger Tage stattfinden, denn nur während einer kurzen Zeitspanne gelingt es, den retrahierten proximalen Stumpf nach distal zu ziehen, die Sehne zu reinserieren oder zu nähen und dann zu verstärken.

Eine veraltete Ruptur kann entweder konservativ mit einer Heidelberg-Schiene (Unterschenkelschiene mit 90°-Winkel für den Fuss, die das Hängen des Fusses verhindert) oder operativ behandelt werden. Da sich der Tibialis-anterior-Muskel mit der Zeit stark retrahiert, verfettet und seine Elastizität einbüsst, ist eine direkte Rekonstruktion im Falle einer älteren Ruptur nicht mehr möglich. Die Sehnen der langen Gross- und Kleinzehen-Strecker können zwar auf den Mittelfuss verlagert werden, die Fussextension wird aber nie so kräftig sein, wie im Falle einer raschen und direkten Rekonstruktion der ursprünglichen Sehne – die funktionellen Resultate sind dementsprechend auch weniger gut.

Kurz und gut – was soll ich mir merken?

Anamnese

  • Mediale Mittelfusschmerzen
  • Schmerzen in der Nacht und beim Bergabgehen

Befund

  • Umschriebene lokale Schmerzen über dem medialen Mittelfuss
  • Fersengang häufig schmerzhaft

Differentialdiagnose

  • Arthrose Mittelfussgelenke (Anlaufschmerzen, keine Nachtschmerzen) Therapie

Therapie

  • KEINE KORTISON-INFILTRATION! (Rupturgefahr +++)
  • Chirurgisches Débridement zur Schmerzbehandlung und Verstärkung der Sehne zur Rupturprophylaxe