Liebe Kolleginnen und Kollegen
Die Kunst der Medizin besteht in der Kunst des Verzichtes. Sie unterscheidet sich vom Handwerk des systematischen Abarbeitens von unwahrscheinlichen Differentialdiagnosen, dem blinden Befolgen von Algorithmen und Leitlinien und vom Durchführen von redundanten Abklärungen zwecks Erreichens einer maximalen Verrechenbarkeit des Spitalaufenthaltes. Die Einführung der DRGs, durchaus nachvollziehbar für strukturierte definierte Abläufe in chirurgischen Disziplinen, taugt in internistischen Disziplinen wie der Rheumatologie nicht. Die DRG sind in unserer Disziplin vielmehr eine tägliche Bedrohung der rationalen, reflektierten Abklärung und der individualisierten Entscheidfindung. Das Thema nicht-Sinnvolles hat mit anderen Worten heute höchste Aktualität.
Der aktive Verzicht auf Abklärung oder Therapie bedeutet Reflexion und er verlangt Dokumentation, denn nur so kann er im Nachhinein aus den Akten rekonstruiert werden. Ohne Dokumentation kann retrospektiv nicht zwischen Verzicht und Vergessen differenziert werden. Ferner bedeutet Verzicht auch das Eingehen des Risikos eines Fehlers. Denn die Lücke, welche der Verzicht hinterlässt, kann je nach Verlauf zu einem späteren Zeitpunkt als Fehler interpretiert werden. Wer die Kunst der Medizin pflegen will, muss sich diese Form von Fehler erlauben und muss potentielle Kritik aushalten können. Viele Abklärungen und Therapien werden durchgeführt und entsprechende Kosten generiert durch Angst, etwas vergessen zu haben oder kritisiert zu werden. Marcel Weber erweitert diese einleitenden Zeilen und diskutiert die Thematik im grossen Kontext, unter Einbezug unter anderem von Kosten, Politik und Lehre.
Nicht-Sinnvolles reproduziert sich, das heisst es führt typischerweise zu weiteren nicht-sinnvollen Abklärungen und Therapien. Unzählige Beispiele finden sich im Rahmen von Laboruntersuchungen oder in verunsichernden bildgebenden Nebenbefunden. Diana Dan und Harald Bonel analysieren die Themen Laboruntersuchungen respektive Bildgebung in der Rheumatologie.
Anschliessend beleuchtet Michael Seitz das schillernde Krankheitsbild des Polymyalgischen Syndroms und gibt in einem zweiten Artikel strukturierte Informationen über Medikamente bei verschiedensten Krankheiten, wie es nur jemand schreiben kann, der über 40 Jahre Rheumatologie gelebt hat.
Johannes von Kempis hat sich dem Systemischen Lupus Erythematosus gewidmet. Es werden im Artikel wissenschaftliche Evidenz und Eular-Empfehlungen ergänzt durch Erfahrung, welche auf vieljähriger klinischer und wissenschaftlicher Tätigkeit beruht.
Das Verschreiben von Säureblockern ist eine alltägliche, typischerweise reflexartige und nicht reflektierte Handlung. Es war daher naheliegend, einen Gastro-Enterologen zu Wort zu bitten. Nico Weber resümiert die protektiven intestinalen Mechanismen und die potentiellen Nebenwirkungen der NSAR, woraus sich nicht-sinnvolle Verschreibungen ableiten lassen.
Abgerundet wird die Artikelserie durch das Thema Physiotherapie. Maurizio Trippolini informiert über den gegenwärtigen Stand der Forschung im Thema Wirksamkeit von physiotherapeutischen Massnahmen und beleuchtet die Evidenz im Detail an der Rheumatoiden Arthritis, von Rückenschmerzen und von Arthrose.
Ich hoffe, dass dieser thematisch wohl etwas zufällig wirkende Spaziergang über die Diagnostik und Krankheitsbilder bis hin zu therapeutischen Modalitäten hilfreiche Inputs für den Praxisalltag geben mag.
Prof. Dr. med. Peter Villiger, Bern