Die normale Entwicklung der Beinachsen im Wachstumsalter

Nach der Geburt und vor allem nach Gehbeginn zeigt sich typischerweise eine mehr oder weniger ausgeprägte O-Beinstellung. Im zweiten Lebensjahr begradigen sich üblicherweise die Beinachsen und in der Folge entsteht sogar eine leichte X-Beinigkeit von etwa 10°, welche sich dann schrittweise innerhalb des ersten Lebensdekade wiederum auskorrigiert.
Normalerweise endet die normale Entwicklung der Beinachsen mit einer geraden Beinachse vor der Pubertät.

Was ist zu beachten, wenn sich die Beinachsen nicht normal entwickeln?

Besteht bei Gehbeginn und in den folgenden Jahren eine sehr ausgeprägte und sogar zunehmende X oder O-Beinstellung der unteren Extremitäten, so ist dies zumindest kurzfristig beobachtungswürdig oder teilweise auch weiter abzuklären. In den meisten Fällen handelt es sich aber selbst bei sehr ausgeprägten X- oder O-Beinen im Kleinkindesalter um eine noch physiologische Entwicklung, die lediglich eine Beratung erfordert und in den meisten Fällen lässt sich auch mit einer jährlichen Fotodokumentation der Verlauf ausgezeichnet beurteilen (Abb. 1). Zu bedenken ist auch, dass gerade im Kindergartenalter ein recht ausgeprägtes X-Bein typischerweise durch ein Einwärtsdrehen der Kniegelenke im freien Gang durch eine noch hohe femorale Antetorsion im klinischen Bild verstärkt wird. Üblicherweise wächst sich aber auch dies gemeinsam mit der X-Beinigkeit aus.

Wenn aber eine O-Beinstellung (Varusdeformität) und viel häufiger eine X-Beinstellung (Valgusdeformität) nach dem 10. Lebensjahr persistiert, so entspricht dies nicht mehr dem normalen Verlauf und ist abklärungs- und möglicherweise therapiebedürftig. Üblicherweise werden uns die Kinder dann zu einer Standortbestimmung zugewiesen. Je nach Alter und Entwicklungsstand (Eintritt der Pubertät) werden wir dann auch eine Röntgenuntersuchung durchführen, vor allem um den richtigen Zeitpunkt einer Wachstumslenkung (siehe unten) nicht zu verpassen. Wir führen zum Schutz des Kindes eine Röntgendiagnostik nur dann durch, wenn sich daraus eine therapeutische Konsequenz ergeben würde.

Die kinderorthopädische Aufgabe in der Behandlung von Achsenfehlstellung besteht darin, Spätschäden und wie im Falle einer starken X- oder O-Beinigkeit eine frühzeitige Arthrose (Abnutzung), vor allem des Kniegelenkes, zu verhindern (Abb. 2) Eine verpasste Wachstumslenkung kann bedeuten, dass die Fehlstellung zu einem späteren Zeitpunkt mit einem wesentlich grösserem chirurgischen Aufwand (Osteotomie) behandelt werden muss.

Ursachen von Achsenfehlstellungen

In den allermeisten Fällen bestehen idiopathische, das heisst von der Ursache her ungeklärte Fehlstellungen. Diese treten sporadisch auf, nicht selten weisen Familienmitglieder einen ähnlichen Habitus auf. Heutzutage seltener bestehen posttraumatische Fehlstellungen, da die Erstversorgung nach dem Trauma glücklicherweise auf sehr hohem Niveau durchgeführt wird. Eine eher seltene Ursache für eine X-Beinigkeit sind angeborene Fehlbildungen wie die Fibulahemimelie und der Femurdefekt. Als weitere Ursachen sind auch Stoffwechselstörungen und Dysplasien zu nennen. Erfreulicherweise ist in unseren Breiten die Rachitis nur noch selten Ursache einer ausgeprägten Fehlstellung (Abb. 3).

Der Untersuchungsbefund

Die Untersuchung bei einem Verdacht auf eine Achsenfehlstellung im Bereich der Beine beginnt immer mit einer genauen Begutachtung des Gangbildes. Typischerweise ist die X-Beinigkeit mit funktionellen Einschränkungen verbunden, da die Kniegelenksinnenseiten beim Gehen aneinander reiben können und der Patient dadurch entweder ein breitspuriges Gangbild einnimmt oder die Kniegelenke zirkumduziert werden müssen.
Achsenfehler in der Frontalansicht lassen sich sehr gut klinisch beschreiben. Der Abstand zwischen den Innenseiten der Kniegelenke beim O-Bein oder der Innenknöchelabstand beim X-Bein und gleichzeitig
aneinandergelegten Knieinnen¡ächen ist ein gewisser Anhaltspunkt, lässt aber eine vollständige Diagnose natürlich noch nicht zu. Vor allem eine etwas stärkere Weichteilpolsterung kann ein nur mild vorliegendes X-Bein deutlich im Eindruck verstärken.

Welche Diagnostik ist notwendig?

Wenn der Verdacht auf eine Achsenfehlstellung besteht und sich aufgrund des Alters des Patienten und des Ausprägungsgrades der X- oder O-Beinigkeit eine therapeutische Konsequenz ergeben würde, führen wir eine genau standardisierte Ganzbeinstandröntgenaufnahme durch. Anhand der mechanischen Achse und der berechneten Winkel (Deformitätenanalyse nach Paley et al) können wir erkennen, wo sich die Deformität befindet und vor allem, wie stark sie ausgeprägt ist. Darüber hinaus gehende Untersuchungen sind nur selten notwendig.

Wann muss therapiert werden?

Handlungsbedarf besteht dann, wenn eine Achsenfehlstellung besteht, die eine frühzeitige Mehrabnutzung eines Kniegelenksanteils begünstigen würde. Diese Überlastung eines Kniegelenkkompartiments entsteht dann, wenn die mechanische Achse, die zwischen Hüftkopf und Sprunggelenk verläuft, zu weit medial (beim O-Bein) und – viel häufiger – zu weit aussen (bei der X-Beinigkeit) verläuft (Abb. 4).

Leider sind konservative Therapiemöglichkeiten bei knöchernen Problemstellungen nicht vorhanden.
Schienen und Spezialschuhversorgung, Einlagen oder Physiotherapie sind nach heutigem Wissensstand nicht wirksam, da die knöcherne Fehlstellung nicht beeinflusst werden kann.

Die minimalinvasive Wachstumslenkung (Hemiepiphysiodese) – das Verfahren

Wurde in der Sprechstunde festgestellt, dass eine behandlungsbedürftige X- oder O-Beinigkeit besteht und dass der ideale Zeitpunkt vorliegt – der pubertäre Wachstumsschub –, besteht die Indikation für eine Wachstumslenkung (Hemiepiphyseodese). Seit mittlerweile über 12 Jahren verwenden wir hierfür ein kleines 8er Plättchen (Abb. 5a), welches mit jeweils einer Schraube oberhalb und unterhalb der behandelten Wachstumsfuge unter BV-Kontrolle angebracht wird. Die Implantation des Plättchens wird in kurzer Allgemeinanästhesie über einen minimalinvasiven Zugang durchgeführt (Abb. 5b), der mit etwa 3–4 cm kaum länger ist als das Plättchen an sich. Für die Implantation eines Plättchens rechnen wir mit etwa 15–18 Minuten vom Hautschnitt bis zur Hautnaht. Häufig kann die Operation beidseits simultan durchgeführt werden, sodass die gesamte Operations- und Narkosezeit sehr kurz ist. Üblicherweise verwenden wir sich selbst au¡ösende Fäden, die noch zusätzlich mit Steri-Strips befestigt werden, sodass eine Nahtentfernung entfällt. Der Aufenthalt in unserer Klinik umfasst normalerweise 2 Übernachtungen. Üblicherweise sind die Patienten (die häufig auf beiden Seiten ein 8er Plättchen implantiert bekommen) so gut an Gehstöcken mobilisiert, dass sie im 4-Punkt Gang nach Hause gehen können und auch Treppen steigen können. Die Gehstöcke werden üblicherweise für 3–4 Tage ab Zeitpunkt der Operation verwendet, anschliessend allenfalls noch bei längeren Gehstrecken. Eine volle Sportfähigkeit wird nach durchschnittlich 2.5–3 Wochen wieder erreicht. Die Voraussetzung ist, dass die Wunde gut verheilt ist.

Anschliessend finden Verlaufskontrollen in unserer Sprechstunde alle 5–6 Monate statt, jeweils wird ein Röntgenbild der Beine angefertigt, um den Erfolg der Wachstumslenkung zu sehen (Abb. 6). Wenn die Beinachsen korrigiert sind, können die Plättchen wieder entfernt werden. Dies erfolgt üblicherweise ambulant. Meistens ist eine Zeit von etwa 12–18 Monaten notwendig, um die Beinachse zu korrigieren.
Dies ist klarerweise davon abhängig, wie viel Wachstum in dieser Zeit stattfindet und wie stark die Fehlstellung ursprünglich war.

Die Wachstumslenkung mit den 8er Plättchen und den 2 Schrauben ist eine äusserst erfolgreiche Methode zur frühzeitigen Behandlung von Fehlstellungen im Kindes- und Jugendalter. Zwischen dem Jahr 2007 und 2018 wurden an unserer Klinik über 1000 Fälle mit dieser Methode erfolgreich behandelt.

Was sind Risiken einer Wachstumslenkung?

Die Operation an sich ist eine unkomplizierte, wenn auch gewissenhaft durchzuführende Operation. Das Plättchen muss absolut korrekt platziert werden. In den weit über 1000 Fällen, die wir bereits mit den 8er Plättchen behandelt haben, ist es nur in 3 Fällen zu einer Problematik gekommen, bei der wir das Plättchen nochmals neu positionieren mussten.

Ein wichtiges Thema ist das sogenannte Rebound-Phänomen. Nach stattgefundener Wachstumslenkung und nach Entfernung der Plättchen kann ein Rückfall auftreten. In unserer Klinik werden daher die Plättchen möglichst zum optimalen Zeitpunkt eingesetzt, das heisst, sie dürfen weder zu früh noch zu spät eingesetzt werden. Eine zu frühe Implantation könnte bedeuten, dass das Wachstum – nach Entfernung der Plättchen – noch so ausgeprägt ist, dass es zu einem Wiederauftreten der Fehlstellung kommen kann. Auch nimmt man bei geringfügigen Fehlstellungen die Chance, dass sich die Fehlstellung spontan noch etwas reduziert, was wir immer wieder beobachten. Ein zu spät initiierte Operation würde bedeuten, dass nicht mehr genug Wachstum für eine vollständige Korrektur vorhanden ist.

Zusammenfassung

In den meisten Fällen sind kindliche Achsenfehlstellungen der unteren Extremitäten problemlos und sie wachsen sich im Laufe des ersten Lebensjahrzehnts aus. Falls eine Fehlstellung der Beinachsen über das 10. Lebensjahr hinaus persistiert, so wird eine Vorstellung beim Kinderorthopäden empfohlen. Dieser sollte dann mit seiner Erfahrung entscheiden, ob eine behandlungsbedüršige Problematik vorliegt, wann optimalerweise eine Röntgenuntersuchung zusätzlich durchgeführt werden sollte und wann der optimale Zeitpunkt für eine möglicherweise notwendige Wachstumslenkung ist. Die Wachstumslenkung ist an sich ein kleiner chirurgischer Eingri« mit ausgezeichneter Wirkung und extrem niedriger Komplikationsrate.