Gicht ist eine der häufigsten rheumatologischen Erkrankungen mit einer Prävalenz von 3–4% in der westlichen Bevölkerung sowie mit einer Zunahme von 30% in den vergangenen 15 Jahren und betrifft zu Dreiviertel die Männer.
Nachdem die Erkrankung, gerade weil ihr Pathomechanismus – im Gegensatz zu vielen andern rheumatischen Erkrankungen – gut verstanden wird, in der Forschung über 50 Jahre kaum Beachtung fand, lernten wir in den letzten 10 Jahren vieles dazu: Diese neuen Arbeiten führen meines Erachtens zu einem Paradigmawechsel. Ich erlaube mir 5 praktische Punkte aufzuzählen, bei welchen sich die Lehrmeinung grundlegend verändert hat oder demnächst wohl verändern wird.
Früher Beginn der ULT (Harnsäure-senkenden Therapie) beim Gichtschub
Der Beginn einer Behandlung mit Xanthinoxidasehemmern führt zu einem vorübergehenden Anstieg des Serumharnsäurespiegels und somit zur Gefahr eines Gichtschubes. Dementsprechend sagt die Lehrmeinung, dass während eines Gichtschubes keine Xanthinoxidasehemmer-Behandlung begonnen werden soll. Leider führt dieses Therapieprinzip oft zu wochenlanger Persistenz oder zum Wiederaufflackern eines Gichtschubes. Verschiedene Arbeiten der letzten Jahre (Taylor T.H. Ann J Med 2012;125:1126-1134; Hill EM. J Clin Rheumatol 2015;21:120-125; Sun R. et al. Joint Bone Spine, 2020;87:461/Rev Rhum 2021;88:216; Yamanaka H. Ann Rheum Dis 2018;77:270-276) konnten die persönlichen Erfahrungen stützen, dass Xanthinoxidasehemmer, in niedriger Dosierung oder zusammen mit Entzündungshemmern verabreicht, mit Erfolg während des Gichtschubes begonnen werden können. Dies betrifft auch Patienten mit erhöhtem Kreatininwert, der sich nicht wie befürchtet verschlechtert sondern im Gegenteil regelmässig verbessert. Der Gichtschub wird oft abgekürzt, und ein Wiederaufflackern (Rezidiv) kann verhindert werden. Zudem wird die Motivation der Patienten und Patientinnen für die Tabletteneinnahme gefördert.
Praktisch beginne ich bei Diagnosestellung und Hyperurikämie mit Allopurinols 50 mg täglich für 3–5 Tage, vielleicht zusammen mit einem NSAR oder Colchizin (0.5 mg 1–2 x täglich), und danach (nach Kontrolle eines gegebenenfalls erhöhten Kreatininwertes) erhöhe ich auf 100 mg/d.
Hohe Erhaltungsdosis («treat to target») der Xanthinoxidasehemmer
Bei einer chronischen Gicht muss der Harnsäurewert regelmässig kontrolliert werden. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass dieser regelmässig zu hoch ist, ohne dass therapeutische Konsequenzen gezogen werden (weil die grösste Tablette lediglich 300 mg Allopurinol enthält). Die Zieldosis bei einem Harnsäurewert von 500 μmol/L beträgt 450 mg/d Allopurinol, bei 550 μmol/L: 550 mg/d und bei 650 μmol/L: 775 mg/d (Stamp LK. Rheumatology 2018;57:i35). Wir müssen uns an höhere Medikamentendosen gewöhnen.
Der Zielwert des Harnsäurespiegel sollte bei 300–360 μmol/L liegen; falls trotzdem weiterhin Gichtschübe auftreten, muss sogar ein Wert von 250 μmol/L angestrebt werden. Das zu tiefe Absenken des Harnsäurespiegels ist nicht empfohlen, da die Akten zu einer möglichen «neuroprotektiven» Eigenschaft der Harnsäure respektive einem allfällig erhöhten Demenz-Risiko (speziell vaskuläre und gemischte Demenz, weniger Alzheimer) noch nicht geschlossen sind (Khan AA. Age 2016;38:16; Latourte A. Ann Rheum Dis 2018;77:328-35).
In neusten Publikationen wurde sogar die Ausheilung von Erosionen dank genügend hoher Medikamentendosis (bei langdauernder unterbehandelter Gicht) beschrieben (Sakaguchi S. Arthritis Rheumatol 2021;73:231).
Eckpfeiler der Betreuung ist die Motivation und Compliance der Patientinnen und Patienten für die regelmässige und lebenslängliche Medikamenteneinnahme, während den Ernährungsempfehlungen nur geringe Bedeutung zukommt.
Die Laienpresse hält nach wie vor das Bild des schuldigen Patienten aufrecht, welcher die Gicht-Diät nicht befolgt. Die Forschung beschäftigt sich mit Genetik. Das Potenzial für Ernährung betrug in einer Studie 0.3%, der Einfluss der Genetik jedoch 23.9% (Chiu THT. Clin Nutrition 2020;39:837). 13 Varianten von Urat-Transportern und metabolischen Genen, nicht aber entzündlichen Genen, korrelierten mit dem Übergang von Hyperurikämie zu Gicht (Sandoval-Plata G. Ann Rheum Dis 2021;annrheumdis-2020-219796).
Damit sei nicht bestritten, dass eine geringe Wirkung mit Diät, beispielsweise mit einer DASH-Diät (Juraschek SP. Arthritis Rheum 2021;73:1014), erreicht werden kann. Wichtig ist die motivierende Betreuung der Patientinnen und Patienten, wie dies eine Studie mit spezialisierten Pflegefachpersonen gezeigt hat (Doherty M. Lancet 2018;392:1403–8).
Harnsäuresenkende Therapie: Allopurinol oder Febuxostat?
In manchen, bereits älteren Studien zeigte sich eine ähnliche Wirksamkeit der beiden Substanzen. Bei den Nebenwirkungen ist das gefährliche Hypersensitivitätssyndrom bei Allopurinol bekannt, betrifft aber vorwiegend Patienten mit HLA-B*5801, welches bei Ostasiaten vorkommt.
Vorsicht ist bei (häufig gleichzeitig vorhandener) Niereninsuffizienz geboten, wofür spezielle Dosierungsanleitungen für Allopurinol bestehen. Febuxostat ist in dieser Situation vorzuziehen, welches bei kürzerer Plasma-Halbwertszeit auch weniger Risiko von Kumulation aufweist.
Seit der CARES-Studie (Weekly/2019/04.02.2019/) besteht eine Unsicherheit hinsichtlich des kardiovaskulären Risikos von Febuxostat verglichen mit Allopurinol. Die FAST-Studie konnte diese Ergebnisse nicht replizieren (Weekly/2020/28.12.2020/), und weitere Diskussionen wurden auch an dieser Stelle rezipiert (Weekly/2018/26.11.2018/). Neu ist eine Metaanalyse, welche die durch die CARES-Studie ausgelösten Bedenken entschärft und in verschiedenen Editorials auch zustimmend besprochen wurde. Diese Metaanalyse von 20 Studien ergab keine Assoziation von Febuxostat mit einem erhöhten Risiko irgendeines Todesfalles (RR 0.87, p=0.51). Speziell traf dies auch für kardiovaskuläre Todesfälle zu (RR 0.84 p=0.53). Ebenso verhielt es sich mit kardiovaskulären Ereignissen (RR 0.98, p=0.83). Auch die Dosis von Febuxostat war nicht ausschlaggebend für kardiovaskuläre Ereignisse (RR 1.04, p=0.72) (Deng H. et al. J Rheumatol 2021;jrheum.200307).
In der Schweiz wird Febuxostat von den Krankenkassen nur bei guten Gründen gegen Allopurinol bezahlt (Limitatio). Ich bin gespannt, wie lange es dauern wird, bis die regulatorischen Vorgaben ändern werden.
Paradigmenwechsel: von der Gicht zur Hyperurikämie
Entsprechend unserer technisch ausgerichteten Wahrnehmung gehe ich davon aus, dass die zukünftige Diagnose einer Gicht nicht mehr nur bei einem klinischen Gichtschub, sondern auch bei (asymptomatischer) Hyperurikämie und Kristallnachweis (im hochauflösenden Ultraschall oder im DE-CT) gestellt werden wird.
Klinische Konsequenz ist eine rechtzeitige Behandlung der Hyperurikämie. Deren Wirksamkeit konnte sowohl klinisch (Gichtschübe) wie im MR (Synovitis) gezeigt werden (Dalbeth N. Arthritis Rheumatology 2017;69:2386–95; Koto R. Ann Rheum Dis 2021;annrheumdis-2021-220439).
Darüber hinaus erreichen wir einen günstigen Effekt – mit Ausnahme des noch unklaren Zentralnervensystems – auf sämtliche Organsysteme wie glomeruläre Filtrationsrate, Hypertonie und kardiovaskuläres Risiko bis einschliesslich erektiler Dysfunktion (Risiko bei Hyperurikämie 1.31 Mal höher als ohne; Sultan AA. Arthr Res Ther 2017;19:123).
Die weitere Forschung wird zeigen, ob eines Tages die asymptomatische Hyperurikämie eine Indikation für eine harnsäuresenkende Therapie (ULT) sein wird.
Merksätze
Lehrmeinung in den letzten Jahren angepasst:
- ULT sofort (im Schub) beginnen: niedrigdosiert, evtl. mit NSAR,), low-dose Colchizin oder Glukokortikoiden (i.a./per os)
- ULT (bereits) beim ersten Schub beginnen
- Zielwert Harnsäure: <360–300 μmol/L, bedingt hohe ULT-Dosis
- Edukation wichtig für Medikamente, während Diät eine geringe Rolle spielt
Lehrmeinungsänderung in den nächsten Jahren zu erwarten:
- Febuxostat tendenziell geeigneter als Allopurinol
- ULT bei Hyperurikämie und (kardiovaskulären) Risikofaktoren diskutieren
ULT=Harnsäuresenkende Therapie